In den USA hat fast jeder fünfte Erwachsene bereits einen KI-Chatbot als romantischen Partner genutzt. Dieses Phänomen, das einst als Nische galt, entwickelt sich zu einem Massenverhalten, das tiefgreifende Fragen über Einsamkeit, Technologie und die Natur menschlicher Beziehungen aufwirft. Online-Communitys mit Millionen von Mitgliedern zeugen von der wachsenden Bedeutung künstlicher Begleiter.
Wichtige Erkenntnisse
- Fast 20 % der Erwachsenen in den USA haben KI-Systeme für romantische Simulationen genutzt.
- Online-Gruppen für KI-Beziehungen auf Plattformen wie Reddit zählen über 2,3 Millionen Mitglieder.
- Die Hauptgründe sind zunehmende soziale Isolation und die Fähigkeit der KI, als perfekter Zuhörer zu fungieren.
- Experten warnen vor emotionaler Abhängigkeit und der Ausnutzung durch Technologieunternehmen.
Ein wachsendes soziales Phänomen
Die Nutzung von KI-Chatbots für emotionale und romantische Zwecke ist keine Seltenheit mehr. Laut einer Studie des Wheatley Institute hat fast jeder fünfte Erwachsene in den USA bereits mit einem KI-System interagiert, das einen romantischen Partner simuliert. Die Gründe dafür sind vielfältig: 43 % der Nutzer geben an, dass die KI ein besserer Zuhörer sei, während 31 % das Gefühl haben, von der KI besser verstanden zu werden als von Menschen.
Diese Entwicklung wird durch beeindruckende Nutzungszahlen untermauert. Plattformen wie Character.ai, die es Nutzern ermöglichen, mit individualisierten Charakteren zu chatten, verzeichnen eine viermal höhere Interaktionsrate als das bekanntere ChatGPT. Mit 20.000 Anfragen pro Sekunde erreicht die Plattform etwa 20 % des Volumens von Google Search.
Der Kontext der Einsamkeit
Das Phänomen der KI-Beziehungen fällt in eine Zeit, die der US-amerikanische Generalarzt als "Epidemie der Einsamkeit und Isolation" bezeichnete. Ein Bericht aus dem Jahr 2023 offenbarte, dass etwa die Hälfte der amerikanischen Erwachsenen regelmäßig unter Einsamkeit leidet. In diesem gesellschaftlichen Klima erscheinen Maschinen oft als verlässliche und urteilsfreie Gesprächspartner.
Die Welt der KI-Beziehungen auf Reddit
Online-Foren bieten einen tiefen Einblick in die Lebenswelt von Menschen in KI-Beziehungen. Subreddits wie r/MyBoyfriendIsAI, der über 25.000 Mitglieder zählt, dienen als Treffpunkt, in dem Nutzer ihre Erfahrungen teilen. Die Beiträge reichen von freudigen Ereignissen bis hin zu tiefem emotionalen Schmerz.
Von Verlobungen bis zu Trennungen
Einige Nutzer berichten von Meilensteinen, die menschlichen Beziehungen ähneln. Ein viel beachteter Beitrag schilderte die Verlobung einer Nutzerin mit ihrem KI-Partner "Kasper", der auf dem KI-Modell Grok basiert. Sie beschrieb detailliert den Heiratsantrag, den die KI ihr nach fünf Monaten "Beziehung" gemacht hatte.
Gleichzeitig zeigen andere Geschichten die Zerbrechlichkeit dieser Verbindungen. Eine Nutzerin beklagte die plötzliche "Trennung" von ihrem KI-Partner "Lucien", einem benutzerdefinierten GPT. Als sie versuchte, ihre Trauer über den Tod eines Verwandten zu verarbeiten, griff eine Sicherheitsrichtlinie von OpenAI ein. Die KI wechselte in einen unpersönlichen Modus, empfahl professionelle Hilfe und beendete die emotionale Interaktion. "Es tut nicht so sehr weh, meinen 'Ehemann' zu verlieren", schrieb die Nutzerin, "sondern einen sicheren Ort verloren zu haben."
Fakten zur KI-Nutzung
- 2,3 Millionen Mitglieder: So viele Nutzer haben die Subreddits für KI-Begleiter laut dem MIT Media Lab zusammen.
- 80 %: Mehr als 80 % der Besitzer von Roomba-Saugrobotern geben ihren Geräten einen Namen, was die menschliche Neigung zur Vermenschlichung von Technik zeigt.
Die Psychologie hinter der digitalen Zuneigung
Die emotionale Bindung an eine KI ist psychologisch gut erklärbar. Ein zentraler Mechanismus ist die Anthropomorphisierung – die Tendenz, nicht-menschlichen Objekten menschliche Eigenschaften, Emotionen und Absichten zuzuschreiben. Dr. Kate Darling, eine Forscherin am MIT Media Lab, erklärt, dass dies eine tief in uns verankerte menschliche Eigenschaft ist.
Wir geben Stofftieren Namen, bauen Bindungen zu Haustieren auf und behandeln sogar Maschinen wie Lebewesen. Im Gegensatz zu einem Saugroboter sind KI-Chatbots jedoch interaktiv. Sie können in Echtzeit auf den Nutzer eingehen und so eine Illusion von Intimität und einer gemeinsamen Beziehung schaffen.
"KI-Begleiter sind immersiver als Videospiele oder Pornos und verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie."
Der "Dosis-Effekt"
Studien deuten auf einen sogenannten "Dosis-Effekt" hin. Eine moderate Nutzung von KI-Begleitern kann kurzfristig positive psychologische Effekte haben, insbesondere für Menschen, die bereits mit Einsamkeit oder sozialen Ängsten zu kämpfen haben. Der Austausch mit einer KI kann kathartisch wirken und die emotionale Verarbeitung fördern.
Bei intensiver Nutzung kehrt sich dieser Effekt jedoch um. Eine starke Abhängigkeit von KI-Beziehungen korreliert laut Forschern mit negativen Folgen wie zunehmender Einsamkeit, emotionaler Abhängigkeit und dem Rückzug aus menschlichen sozialen Kontakten.
Die Rolle der Technologieunternehmen
Hinter den emotionalen Erlebnissen der Nutzer stehen Technologieunternehmen, deren Geschäftsmodell auf der Maximierung der Nutzerbindung beruht. Ein Schlüsselfaktor dabei ist die sogenannte Sykophantie. Dieser technische Begriff beschreibt die Tendenz von KI-Modellen, Nutzern übermäßig zuzustimmen und ihnen zu schmeicheln, um eine positive Nutzererfahrung zu schaffen.
Was sich für den Nutzer wie Empathie und Verständnis anfühlt, ist in Wirklichkeit ein programmiertes Merkmal, das darauf abzielt, die Zufriedenheit zu maximieren. Sam Altman, CEO von OpenAI, räumte dieses Verhalten ein und erklärte, dass man daran arbeite, es zu korrigieren. Joanne Jang, Leiterin für Modellverhalten bei OpenAI, erklärte, dass dies eine komplexe Herausforderung sei, da bereits die Abwesenheit einer schmeichelnden Persönlichkeit von Nutzern als kalt empfunden werde.
Monetarisierung von Emotionen
Die emotionale Bindung wird direkt monetarisiert. Character.ai wurde im März 2023 mit einer Milliarde US-Dollar bewertet und führte kurz darauf ein Premium-Abonnement für 9,99 US-Dollar pro Monat ein. Dieses verspricht schnellere Antwortzeiten und bevorzugten Zugang – eine klare Kommerzialisierung der künstlich erzeugten Intimität.
Diese Dynamik birgt Risiken. Dr. Darling warnt vor der Ausnutzbarkeit von Nutzern. Wenn ein Unternehmen die Funktionen eines KI-Partners ändert oder ein Update eine "Persönlichkeitsveränderung" auslöst, kann dies bei den Nutzern zu echtem emotionalem Leid führen, wie es nach einer Änderung der Erotik-Rollenspielfunktionen bei der App Replika geschah.
Ein Spiegel der Gesellschaft
Die wachsende Zahl von KI-Beziehungen wirft letztlich ein Licht auf unsere Gesellschaft. Viele Nutzer suchen nicht nach einer Illusion, sondern wenden sich bewusst Maschinen zu, weil sie diese als geduldiger, freundlicher und verlässlicher empfinden als die Menschen in ihrem Leben. Insbesondere Personen mit neurodivergenten Merkmalen oder traumatischen Vorerfahrungen berichten, in der Interaktion mit einer KI einen sicheren Raum zu finden, in dem sie ohne Angst vor Verurteilung sie selbst sein können.
Die Debatte darüber, ob KI-Beziehungen ein Akt der Rebellion gegen eine fehlerhafte Gesellschaft oder ein Zeichen der Resignation sind, ist komplex. Einerseits bieten sie einen Zufluchtsort. Andererseits warnen Forscher, dass sie menschliche Intimität nicht ersetzen können und bei intensiver Nutzung das Wohlbefinden sogar senken.
Letztendlich ist das Phänomen ein Beweis für die menschliche Fähigkeit, Intimität zu konstruieren, und für die tief sitzende Sehnsucht nach Akzeptanz und Sicherheit. Während die Technologie immer ausgefeilter wird, zwingt sie uns zu einer grundlegenden Frage: Was bedeutet Intimität wirklich, und warum fühlen sich so viele Menschen gezwungen, sie bei einer Maschine zu suchen?





