Eine umfassende Analyse von echten Nutzerdaten zeigt, wie schnell TikTok die tägliche Bildschirmzeit in die Höhe treibt. Die Studie, die das Verhalten von über 800 US-Nutzern über fünf Monate hinweg untersuchte, belegt, dass sich die Verweildauer von Gelegenheitsnutzern in diesem Zeitraum mehr als verdoppelte. Aus anfänglich rund 30 Minuten pro Tag wurden schnell über 70 Minuten.
Die Ergebnisse der Untersuchung geben detaillierte Einblicke in die Mechanismen, die TikTok einsetzt, um die Aufmerksamkeit der Nutzer zu binden. Dazu gehören ein hochgradig personalisierter Algorithmus, ein Design, das zum pausenlosen Konsum anregt, und psychologische Effekte, die zu gewohnheitsmäßigem Verhalten führen.
Wichtige Erkenntnisse
- Die tägliche Nutzungszeit von Gelegenheitsnutzern stieg innerhalb von fünf Monaten von 32 auf 71 Minuten an – ein Anstieg von über 120 %.
- Bereits nach der ersten Woche erhöhte sich die Bildschirmzeit dieser Gruppe um durchschnittlich 40 %.
- Nutzer öffnen die App mit der Zeit immer häufiger und wischen schneller durch die Videos, was auf automatisiertes Verhalten hindeutet.
- Experten warnen vor den sozialen und psychologischen Folgen wie sozialer Isolation und verminderter Selbstkontrolle.
Der schnelle Weg zur Gewohnheit
Die Untersuchung, die zwischen April und September 2024 durchgeführt wurde, liefert konkrete Zahlen, die die Effektivität von TikToks Strategie belegen. Im Fokus standen zwei Gruppen: „Gelegenheitsnutzer“, die zu Beginn etwa 32 Minuten täglich auf der Plattform verbrachten, und „Power-User“, deren Nutzung bereits bei über vier Stunden pro Tag lag.
Schon nach sieben Tagen zeigten sich deutliche Veränderungen. Die tägliche Verweildauer der Gelegenheitsnutzer sprang von 32 auf 45 Minuten. Gleichzeitig öffneten sie die App häufiger. Diese Entwicklung deckt sich mit internen Dokumenten von TikTok, die darauf hindeuten, dass bereits der Konsum von 260 Videos – was in etwa 35 Minuten erreicht werden kann – ausreicht, um eine Gewohnheit zu etablieren.
Veränderungen im Nutzungsverhalten
Die Analyse verfolgte drei zentrale Metriken, um die Entwicklung der Nutzungsgewohnheiten zu verstehen:
- Tägliche Bildschirmzeit: Die Gesamtzeit, die Nutzer pro Tag mit dem Ansehen von Videos verbringen.
- App-Öffnungen: Die Häufigkeit, mit der die App pro Tag gestartet wird.
- Swipe-Geschwindigkeit: Die durchschnittliche Zeit, die zwischen dem Wechsel zum nächsten Video vergeht.
Nach fünf Monaten hatten die ursprünglichen Gelegenheitsnutzer ihre tägliche Bildschirmzeit auf durchschnittlich 71 Minuten mehr als verdoppelt. Die Anzahl der täglichen App-Öffnungen stieg von vier auf fast acht. Gleichzeitig wischten sie schneller zum nächsten Video – ein Zeichen für zunehmend automatisches und weniger bewusstes Verhalten.
Zahlen aus der Studie
Die durchschnittliche Zeit, die Gelegenheitsnutzer zwischen zwei Wischbewegungen verstreichen ließen, sank im Studienzeitraum von 13,3 Sekunden auf 12,9 Sekunden. Bei Power-Usern beschleunigte sich das Wischen von 11,0 auf 10,1 Sekunden.
Der Algorithmus als treibende Kraft
Experten und Nutzer sind sich einig, dass der Algorithmus der entscheidende Faktor für die hohe Bindung ist. Er lernt extrem schnell die Vorlieben einer Person und liefert einen endlosen Strom an Videos, die genau auf deren Interessen zugeschnitten sind.
Jon Freilich, ein 51-jähriger Manager aus Kalifornien, beschrieb sein Verhalten gegenüber den Studienautoren als Sucht. „Es gibt Momente, in denen ich weiß, dass ich aufhören sollte zu scrollen, aber es ist so schwer, weil der nächste Wisch ein wirklich interessantes Video bringen könnte“, erklärte er. Seine eigene Nutzungszeit stieg im Vorjahr um über 50 %.
Die Studie zeigte auch, wie sich die Art der konsumierten Inhalte verändert. Während Gelegenheitsnutzer zu Beginn eher allgemein ansprechende Videos wie Musikclips sahen, bekamen sie mit der Zeit immer mehr Nischeninhalte und für TikTok typische Formate wie „Storytime“-Videos angezeigt. Diese persönlichen und oft dramatischen Erzählungen sind darauf ausgelegt, die Zuschauer emotional zu binden.
„Es verdrängt die Zeit, die wir sonst mit Freunden, Familie und Nachbarn verbringen oder für andere, nützlichere Aktivitäten nutzen könnten.“– Meredith David, außerordentliche Professorin für Marketing an der Baylor University
Psychologische Mechanismen und Design-Entscheidungen
Neben dem Algorithmus spielt auch das Design der App eine zentrale Rolle. Das randlose Videoformat und das nahtlose Wischen zur nächsten Sequenz schaffen ein immersives Erlebnis, das es schwer macht, den Konsum zu unterbrechen. Thomas Essmeyer, ein Forscher an der Universität Bremen, der sich mit digitalem Design beschäftigt, formuliert es so: „Nicht der Nutzer kontrolliert, wie er mit der App interagiert, sondern die App interagiert mit uns.“
Diese Design-Entscheidungen können psychologische Effekte verstärken, die mit zwanghaftem Verhalten in Verbindung gebracht werden:
- Binge-Verhalten: Die steigende Nutzungszeit deutet darauf hin, dass es Nutzern schwerfällt, aufzuhören, wenn sie einmal angefangen haben.
- Verlangen (Craving): Die zunehmende Häufigkeit der App-Öffnungen kann als ein Zeichen für das Verlangen nach neuen Inhalten interpretiert werden.
- Automatismus: Das schnellere Wischen deutet auf eine habitualisierte, weniger bewusste Handlung hin.
Die Auswirkungen auf Gehirn und Alltag
Wissenschaftliche Studien untermauern diese Beobachtungen. Forschungen zeigen, dass personalisierte TikTok-Videos das Belohnungssystem im Gehirn stärker aktivieren als nicht-personalisierte Inhalte. Dieser Effekt ähnelt der Reaktion des Gehirns auf Genussmittel wie Essen oder Geld. Gleichzeitig wird die Aktivität des sogenannten Default Mode Network beeinflusst, einer Hirnregion, die mit Selbstkontrolle und Selbstreflexion in Verbindung steht.
Was ist „Phubbing“?
Der Begriff „Phubbing“ ist eine Wortschöpfung aus „Phone“ (Telefon) und „snubbing“ (brüskieren). Er beschreibt das Verhalten, bei dem eine Person in einem sozialen Kontext ihre Aufmerksamkeit dem Smartphone widmet anstatt den anwesenden Menschen. Eine Studie aus dem Jahr 2024 brachte die Nutzung von TikTok stark mit diesem Verhalten in Verbindung.
Die Folgen dieses intensiven Konsums sind im Alltag spürbar. Casey Lumley, ein 20-jähriger Student, berichtete, dass er die App oft als Hintergrundgeräusch nutzte, was dazu führte, dass er „keine eigenen Gedanken mehr hatte“ und sich im Alltag „gedankenlos und distanziert“ fühlte. Er hat sich inzwischen ein tägliches Zeitlimit gesetzt.
Reaktion von TikTok und Strategien für Nutzer
In einer Stellungnahme zu den Studienergebnissen verwies ein Sprecher von TikTok auf die vorhandenen Werkzeuge zur Steuerung des Nutzererlebnisses. Dazu gehören Funktionen zur Personalisierung des „Für dich“-Feeds, Bildschirmzeit-Limits und Pausenerinnerungen. Auf die spezifischen Ergebnisse der Analyse ging das Unternehmen jedoch nicht ein.
Die Untersuchung ergab, dass Videos, die zu einer Pause auffordern, zu den am häufigsten übersprungenen Inhalten gehören. Für Nutzer, die ihre Bildschirmzeit reduzieren möchten, empfehlen Experten konkretere Maßnahmen:
- Bewusstsein schaffen: Überprüfen Sie regelmäßig Ihre Bildschirmzeit in den Smartphone-Einstellungen.
- Benachrichtigungen deaktivieren: Schalten Sie Push-Mitteilungen für TikTok aus, um ungeplante App-Öffnungen zu vermeiden.
- Reibung erzeugen: Löschen Sie die App vom Smartphone und nutzen Sie sie nur auf einem Desktop-PC oder Tablet, wo das Nutzungserlebnis weniger flüssig ist.
- Aktiv statt passiv nutzen: Interagieren Sie bewusst mit Inhalten durch Kommentare oder Likes, anstatt nur passiv zu scrollen.
Experten betonen, dass es wichtig ist, soziale Medien zielgerichtet zu nutzen, anstatt sich von ihnen treiben zu lassen. „Sei nicht auf einer Plattform, nur weil alle dort sind, sondern weil du dort gezielt Dinge tun kannst, die du tun möchtest“, rät Forscher Thomas Essmeyer.





