Ein viraler Tweet mit über 55.000 Likes brachte ein weitverbreitetes Phänomen auf den Punkt: Viele Menschen werden reizbar oder wirken „gemein“, wenn sie überreizt sind. Dieses Verhalten ist keine Charakterschwäche, sondern eine nachvollziehbare biologische Reaktion des Gehirns auf sensorische Überlastung. Experten erklären, was im Körper passiert, wenn zu viele Reize auf einmal einwirken.
Wichtige Erkenntnisse
- Überreizung tritt auf, wenn das Gehirn mehr sensorische Informationen erhält, als es verarbeiten kann.
- Der präfrontale Kortex, zuständig für rationales Denken, wird bei Stress vorübergehend „abgeschaltet“.
- Der Körper aktiviert die „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion, was zu impulsiven und gereizten Verhaltensweisen führt.
- Moderne Technologie, insbesondere Smartphones, trägt maßgeblich zur ständigen sensorischen Überlastung bei.
- Einfache Techniken wie bewusstes Atmen und das Setzen von Grenzen können helfen, das Nervensystem zu regulieren.
Was genau ist Überreizung?
Im Alltag sind wir ständig Reizen ausgesetzt. Unsere Sinne – Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken – nehmen ununterbrochen Informationen aus unserer Umgebung auf und leiten sie an das Gehirn weiter. Normalerweise kann das Gehirn diese Daten filtern und verarbeiten.
„Von Überreizung spricht man, wenn unsere Sinne eine so große Menge an Informationen erhalten haben, dass wir uns bei der Verarbeitung überfordert fühlen“, erklärt die Psychotherapeutin Manahil Riaz. Es ist ein Zustand, in dem die Kapazität des Gehirns zur Verarbeitung von Reizen überschritten wird.
Sensorische Überlastung im Alltag
Ein lautes Büro, ständige Benachrichtigungen auf dem Smartphone, ein anstrengendes Gespräch und gleichzeitig der Versuch, eine E-Mail zu schreiben – all diese Faktoren können einzeln oder in Kombination zu einer sensorischen Überlastung führen. Das Gehirn wird mit Reizen bombardiert und kann nicht mehr priorisieren.
Die biologische Reaktion des Gehirns auf Stress
Wenn das Gehirn überlastet ist, finden spezifische neurologische Prozesse statt, die unser Verhalten direkt beeinflussen. Diese Reaktionen sind tief in unserer Biologie verankert und dienten ursprünglich dem Überleben in Gefahrensituationen.
Der präfrontale Kortex geht offline
Emma Shandy Anway, eine lizenzierte Familientherapeutin, erklärt, dass bei Überreizung der präfrontale Kortex seine normale Funktion einstellt. „Dies ist der Teil des Gehirns, der für rationale Entscheidungen verantwortlich ist“, so Anway. Unter Stress wechselt dieser Bereich von einem reflektierenden und logischen in einen reaktiven Modus.
In diesem Zustand denkt das Gehirn nicht mehr an komplexe Problemlösungen oder die Pflege sozialer Beziehungen. Stattdessen gerät es laut Riaz in eine Art Panikmodus, der auf unmittelbare Reaktionen ausgelegt ist.
Aktivierung der „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion
Gleichzeitig wird das Stressreaktionssystem des Körpers aktiviert, auch bekannt als „Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion“. Dieses System unterscheidet nicht zwischen einer tatsächlichen Bedrohung, wie einem Raubtier, und einer wahrgenommenen Bedrohung, wie einem übervollen Posteingang.
„Wenn das Nervensystem dysreguliert ist, werden alle Reaktionen verstärkt und beschleunigt“, sagt Anway.
Ein kleines Ärgernis, das man an einem entspannten Tag leicht ignorieren würde, kann in einem Zustand der Überreizung das Fass zum Überlaufen bringen. Die Folge: Man schreit die Kinder an, schnauzt den Partner an oder verliert am Telefon die Geduld. Man befindet sich in der „Kampf-oder-Flucht“-Zone, in der rationale Kontrolle kaum noch möglich ist.
Die Kaskade des Stresses
Stress sammelt sich oft über den Tag an. Ein verschlafener Morgen, verschütteter Kaffee und ein Streit mit dem Kind sind kleine Stressmomente. Werden diese nicht verarbeitet, erhöht sich der Grundpegel der Anspannung. Ein letzter kleiner Auslöser, wie ein Stau auf dem Weg zur Arbeit, kann dann eine überproportional heftige Reaktion auslösen.
Technologie als moderner Treiber der Überreizung
Experten sind sich einig, dass die moderne Technologie eine entscheidende Rolle bei der zunehmenden Überreizung spielt. Smartphones, soziale Medien und die ständige Erreichbarkeit haben eine Umgebung geschaffen, in der sensorische Überlastung zur Norm geworden ist.
„Wenn wir über das Gefühl der Überreizung sprechen, ist Technologie ein sehr relevantes Thema“, betont Riaz. Textnachrichten, E-Mails, Push-Benachrichtigungen und endlose Social-Media-Feeds liefern einen ununterbrochenen Strom an Informationen.
Diese ständige Reizüberflutung steht im Widerspruch zum menschlichen Bedürfnis nach Ruhe und Präsenz. Während wir vielleicht glauben, die ständigen Updates zu genießen, sehnt sich unser Nervensystem nach Momenten ohne digitale Ablenkung. Die Kombination aus digitalen Reizen und den Anforderungen des realen Lebens führt zwangsläufig zu einem chronisch überreizten Zustand.
Strategien zur Regulierung des Nervensystems
Es ist normal, sich gelegentlich überfordert zu fühlen. Wichtig ist, wirksame Methoden zu kennen, um das eigene Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen und den präfrontalen Kortex zu reaktivieren.
„Jedes Mal, wenn unser Nervensystem dysreguliert ist, müssen wir unserem Körper beibringen, dass wir nicht in Gefahr sind“, erklärt Anway. Erst wenn der rationale Teil des Gehirns wieder online ist, können wir kontrolliert und besonnen handeln.
Methoden zur sofortigen Anwendung
Wenn Sie merken, dass Sie an Ihre Belastungsgrenze kommen, können folgende Techniken helfen:
- Tiefes Atmen: Atmen Sie langsam durch die Nase ein und achten Sie darauf, dass die Ausatmung länger ist als die Einatmung. Dies signalisiert dem Gehirn, dass keine unmittelbare Gefahr besteht. Ein verlangsamter Atem beruhigt das Nervensystem und damit auch die Gedanken.
- Achtsamkeitsübungen: Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit bewusst auf Ihre Umgebung. Nennen Sie zum Beispiel drei Dinge, die Sie sehen, zwei Dinge, die Sie hören, und eine Sache, die Sie fühlen können. Diese Technik, auch als Grounding bekannt, hilft dabei, die Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
Langfristige Gewohnheiten für mehr Stabilität
Um einer chronischen Überreizung vorzubeugen, sind kleine, aber regelmäßige Gewohnheiten oft wirksamer als große, seltene Veränderungen. „Wir neigen dazu, viel gestresster zu sein, als uns bewusst ist“, sagt Anway.
Folgende Mikro-Gewohnheiten können einen großen Unterschied machen:
- Morgenroutine ohne Smartphone: Verzichten Sie in den ersten 30 Minuten nach dem Aufwachen auf Ihr Handy.
- Tägliche Auszeit: Nehmen Sie sich jeden Tag 10 Minuten nur für sich, zum Beispiel um in Ruhe einen Kaffee auf dem Balkon zu trinken.
- Regelmäßige Check-ins: Stellen Sie sich stündlich einen Wecker, der Sie daran erinnert, kurz innezuhalten und zu prüfen, was Sie gerade brauchen – ein Glas Wasser, eine kurze Dehnung oder ein paar Schritte an der frischen Luft.
Kleine Änderungen, große Wirkung
„Man muss sein Leben nicht komplett umkrempeln oder jeden Tag eine Stunde Yoga machen“, betont Anway. „Diese kleinen Momente haben am Ende eine so große Wirkung, wie es die meisten Menschen nicht erwarten.“ Wichtig ist, diese beruhigenden Praktiken fest in den Alltag zu integrieren, besonders an stressigen Arbeitstagen, und nicht nur am Wochenende.





