In einem Schweizer Labor züchten Wissenschaftler kleine, aus menschlichen Stammzellen gewachsene Gehirn-Organoide. Ziel ist die Entwicklung einer neuen Art von Computer, die auf lebenden Zellen basiert und eines Tages die Energieeffizienz von Rechenzentren revolutionieren könnte.
Das als Biocomputing bekannte Forschungsfeld verbindet Neurowissenschaften mit Informationstechnologie. Das Schweizer Unternehmen FinalSpark gehört zu den Pionieren, die sogenannte „Wetware“ entwickeln – eine Kombination aus biologischem Gewebe und Hardware, die einfache Rechenaufgaben durchführen kann.
Wichtige Erkenntnisse
- Schweizer Forscher bei FinalSpark entwickeln Computer aus lebenden menschlichen Neuronen, die als Organoide gezüchtet werden.
- Diese „Wetware“ soll deutlich weniger Energie verbrauchen als herkömmliche, auf Silizium basierende KI-Systeme.
- Die größte Herausforderung ist die Lebenserhaltung der Organoide, die derzeit eine Lebensdauer von bis zu vier Monaten erreichen.
- Das Feld steckt noch in den Anfängen, doch Experten sehen Potenzial für Nischenanwendungen und in der medizinischen Forschung.
Die Grundlagen des Biocomputings
Die Idee, Computer aus lebenden Zellen zu bauen, klingt nach Science-Fiction. Doch für eine wachsende Zahl von Forschern ist es ein konkretes wissenschaftliches Ziel. Anstatt auf Siliziumchips zu setzen, nutzt das Biocomputing die natürliche Fähigkeit von Neuronen, Informationen zu verarbeiten.
Dr. Fred Jordan, Mitgründer des Schweizer Labors FinalSpark, bezeichnet diese Technologie als „Wetware“. Sie stellt eine grundlegend andere Herangehensweise an das Computing dar und wirft gleichzeitig tiefgreifende Fragen über das Wesen der Intelligenz auf.
Vom Haut- zum Nervenzell-Cluster
Der Prozess bei FinalSpark beginnt mit menschlichen Stammzellen, die aus Hautzellen gewonnen werden. Diese Zellen werden von einem zertifizierten Lieferanten in Japan bezogen, wobei die Spender anonym bleiben. Laut Dr. Jordan sei die Qualität der Zellen entscheidend für den Erfolg der Experimente.
Im Labor werden diese Stammzellen über mehrere Monate hinweg kultiviert. Die zelluläre Biologin Dr. Flora Brozzi und ihr Team regen die Zellen an, sich zu Neuronen und unterstützenden Zellen zu entwickeln. Das Ergebnis sind kleine, kugelförmige Cluster, die als Organoide bezeichnet werden – im Wesentlichen im Labor gezüchtete Mini-Gehirne.
Was sind Organoide?
Organoide sind dreidimensionale Zellkulturen, die die Struktur und Funktion eines Organs im Miniaturformat nachbilden. Gehirn-Organoide enthalten verschiedene Arten von Nervenzellen, die miteinander kommunizieren können. Sie besitzen jedoch kein Bewusstsein und sind in ihrer Komplexität nicht mit einem menschlichen Gehirn vergleichbar.
Die Kommunikation mit der „Wetware“
Sobald die Organoide eine ausreichende Größe und Reife erreicht haben, werden sie an Elektroden angeschlossen. Diese Schnittstelle ermöglicht es den Forschern, elektrische Signale an die Neuronen zu senden und deren Reaktionen aufzuzeichnen. Ein an das System angeschlossener Computer visualisiert die neuronale Aktivität in Form von Graphen, die an ein EEG erinnern.
In einem einfachen Test wird per Tastendruck ein elektrischer Impuls an das Organoid gesendet. Auf dem Bildschirm zeigt sich eine messbare Reaktion. Dr. Jordan erklärt jedoch, dass das Verhalten der Organoide nicht immer vorhersehbar ist. Manchmal hören die Reaktionen plötzlich auf, was die Forscher vor neue Rätsel stellt.
„Wenn man anfängt zu sagen: ‚Ich werde ein Neuron wie eine kleine Maschine benutzen‘, ist das eine andere Sicht auf unser eigenes Gehirn und es bringt einen dazu, zu hinterfragen, was wir sind.“ - Dr. Fred Jordan, Mitgründer von FinalSpark
Das langfristige Ziel ist es, den Neuronen beizubringen, auf bestimmte Eingaben gezielte Ausgaben zu erzeugen. Dies ähnelt dem Lernprozess künstlicher Intelligenz. „Man gibt zum Beispiel ein Bild einer Katze ein und möchte, dass die Ausgabe sagt, ob es eine Katze ist“, erklärt Dr. Jordan das Prinzip.
Herausforderungen und ethische Fragen
Eine der größten technischen Hürden ist die Lebenserhaltung der Organoide. Im Gegensatz zum menschlichen Gehirn besitzen sie keine Blutgefäße, die sie mit Nährstoffen versorgen. „Das ist die größte andauernde Herausforderung“, sagt Simon Schultz, Professor für Neurotechnologie am Imperial College London.
FinalSpark hat in den letzten vier Jahren Fortschritte erzielt und die Lebensdauer seiner Organoide auf bis zu vier Monate verlängert. Der Tod der „Wetware“ ist dabei ein wörtlicher Prozess. Die Forscher haben dabei interessante Beobachtungen gemacht.
Aktivität am Lebensende
Dr. Jordan berichtet, dass sein Team bei etwa 1.000 bis 2.000 aufgezeichneten „Todesfällen“ von Organoiden manchmal einen starken Anstieg der neuronalen Aktivität in den letzten Sekunden beobachtet hat. Dieses Phänomen erinnert an Berichte über erhöhte Gehirnaktivität bei Menschen am Ende ihres Lebens.
Professor Schultz betont, dass man diesen biologischen Systemen mit einer pragmatischen Haltung begegnen sollte. „Wir sollten keine Angst vor ihnen haben, sie sind nur Computer, die aus einem anderen Substrat, einem anderen Material, hergestellt sind“, so Schultz.
Die Zukunft des Biocomputings
FinalSpark ist nicht das einzige Unternehmen in diesem Bereich. Die australische Firma Cortical Labs meldete 2022, dass es ihr gelungen sei, künstliche Neuronen das Computerspiel „Pong“ spielen zu lassen. An der Johns Hopkins University in den USA werden ebenfalls Mini-Gehirne gezüchtet, um neurologische Erkrankungen wie Alzheimer und Autismus zu erforschen und die Entwicklung von Medikamenten zu beschleunigen.
Experten sind sich jedoch einig, dass die Technologie noch in einem sehr frühen Stadium ist. Dr. Lena Smirnova von der Johns Hopkins University glaubt, dass Biocomputing Silizium-basierte KI eher ergänzen als ersetzen wird.
Auch Professor Schultz sieht die Zukunft der „Wetware“ in spezifischen Nischenanwendungen, in denen sie ihre Stärken ausspielen kann, ohne in direkte Konkurrenz zu herkömmlichen Computern zu treten. Für Pioniere wie Dr. Jordan ist die Forschung jedoch mehr als nur die Entwicklung einer neuen Technologie. Es ist die Verwirklichung einer Vision, die lange Zeit der Science-Fiction vorbehalten war.





