Jahrelang galt es als unumstößliche Regel für jeden Läufer: Vor dem Start müssen die Muskeln ausgiebig gedehnt werden. Doch neue Erkenntnisse aus der Sportwissenschaft stellen diese weitverbreitete Annahme infrage. Immer mehr Experten raten von der klassischen Dehnroutine vor dem Laufen ab und empfehlen stattdessen eine völlig andere Herangehensweise an das Aufwärmen.
Die Debatte dreht sich vor allem um die Art des Dehnens. Während das traditionelle statische Halten von Dehnpositionen vor dem Sport an Bedeutung verliert, rückt eine andere Methode in den Fokus, die nicht nur die Verletzungsgefahr senken, sondern sogar die Leistung verbessern kann.
Das Wichtigste in Kürze
- Statische Dehnübungen vor dem Laufen können die Leistungsfähigkeit der Muskeln kurzzeitig verringern.
- Dynamisches Aufwärmen, das den Körper auf die bevorstehende Bewegung vorbereitet, wird von Experten empfohlen.
- Ein richtiges Warm-up erhöht die Blutzirkulation, aktiviert das Nervensystem und bereitet Gelenke vor.
- Statisches Dehnen ist nach dem Laufen zur Förderung der Regeneration und Flexibilität sinnvoller.
Der Mythos des statischen Dehnens vor dem Lauf
Die klassische Vorstellung vom Dehnen ist das statische Dehnen. Dabei wird eine Position für 15 bis 30 Sekunden gehalten, um einen Muskel gezielt zu strecken. Man kennt die Bilder: Läufer, die am Wegesrand ihr Bein auf einen Zaun legen oder sich nach vorne beugen, um die Oberschenkelrückseite zu dehnen. Diese Methode zielt darauf ab, die Flexibilität zu erhöhen und die Muskeln zu entspannen.
Genau hier liegt jedoch das Problem, wenn es unmittelbar vor einer intensiven Belastung wie dem Laufen durchgeführt wird. Ein entspannter, „verlängerter“ Muskel kann weniger explosive Kraft erzeugen. Studien deuten darauf hin, dass statisches Dehnen die Muskelspannung kurzzeitig reduzieren kann, was für schnelle und kraftvolle Bewegungen kontraproduktiv ist.
Leistungseinbußen möglich
Einige sportwissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass intensive statische Dehnübungen direkt vor dem Sport die maximale Muskelkraft um bis zu 5 % verringern können. Für einen Wettkampf kann dieser Unterschied entscheidend sein.
Dr. Frank Weller, ein Sportmediziner, erklärt den Effekt so:
„Stellen Sie sich ein Gummiband vor. Wenn Sie es zu lange dehnen, verliert es vorübergehend seine Spannkraft. Ähnlich verhält es sich mit unseren Muskeln. Vor dem Laufen wollen wir aber einen reaktionsfreudigen, vorgespannten Muskel, keinen schlaffen.“
Kaltes Dehnen birgt Risiken
Ein weiterer kritischer Punkt ist das Dehnen von kalten, unvorbereiteten Muskeln. Ohne eine vorherige Erwärmung ist die Muskulatur weniger elastisch und anfälliger für kleine Risse oder Zerrungen. Das Dehnen einer kalten Muskulatur kann daher genau das Gegenteil von dem bewirken, was man sich erhofft: Statt Verletzungen vorzubeugen, kann das Risiko sogar steigen.
Dynamisches Aufwärmen als bessere Alternative
Anstelle des statischen Dehnens empfehlen Experten heute ein dynamisches Warm-up. Hierbei geht es nicht um das Halten von Positionen, sondern um fließende Bewegungen, die den Körper aktiv auf die bevorstehende Belastung vorbereiten.
Das Ziel ist es, den Kreislauf anzukurbeln, die Körperkerntemperatur zu erhöhen und die Muskeln sowie das Nervensystem zu aktivieren. Ein dynamisches Aufwärmen imitiert oft die Bewegungen, die während des eigentlichen Sports ausgeführt werden, jedoch mit geringerer Intensität.
Was ist dynamisches Dehnen?
Dynamisches Dehnen beinhaltet kontrollierte Bewegungen durch den vollen Bewegungsumfang eines Gelenks. Es bereitet den Körper auf Aktivität vor, im Gegensatz zum statischen Dehnen, das die Muskeln entspannt und die Flexibilität nach der Aktivität verbessert.
Beispiele für ein effektives dynamisches Warm-up
Ein gutes Aufwärmprogramm für Läufer sollte etwa 5 bis 10 Minuten dauern und könnte folgende Übungen beinhalten:
- Gehen oder lockeres Joggen: Beginnen Sie mit 3-5 Minuten sehr langsamem Laufen, um den Blutfluss zu steigern.
- Beinschwingen: Halten Sie sich an einer Wand fest und schwingen Sie jedes Bein locker 10-15 Mal vor und zurück sowie seitlich.
- Ausfallschritte im Gehen (Walking Lunges): Machen Sie langsame, kontrollierte Ausfallschritte nach vorne, um Hüfte und Oberschenkel zu aktivieren.
- Hohe Knie (High Knees): Laufen Sie auf der Stelle und ziehen Sie die Knie abwechselnd so hoch wie möglich.
- Anfersen: Laufen Sie ebenfalls auf der Stelle und versuchen Sie, mit den Fersen das Gesäß zu berühren.
Diese Übungen erhöhen die Herzfrequenz, schmieren die Gelenke mit Gelenkflüssigkeit und aktivieren die spezifischen Muskelgruppen, die beim Laufen benötigt werden. Der Körper wird so optimal auf die Belastung vorbereitet.
Wann statisches Dehnen sinnvoll ist
Das bedeutet jedoch nicht, dass statisches Dehnen völlig nutzlos ist. Es hat nach wie vor einen wichtigen Platz in der Routine eines Sportlers – nur eben nicht direkt vor dem Start.
Nach dem Laufen, während der sogenannten Cool-down-Phase, ist der ideale Zeitpunkt für statische Dehnübungen. Die Muskeln sind warm und durchblutet, was sie empfänglicher für Dehnreize macht. In dieser Phase kann das Dehnen helfen, die Muskelspannung zu reduzieren, die Regeneration zu fördern und langfristig die Beweglichkeit zu verbessern.
Eine typische Cool-down-Routine könnte aus 5-10 Minuten lockerem Auslaufen oder Gehen bestehen, gefolgt von gezielten Dehnübungen für die Waden, Oberschenkel (Vorder- und Rückseite) und die Hüftbeuger. Jede Dehnung sollte sanft und ohne Schmerz für etwa 20-30 Sekunden gehalten werden.
Fazit: Aufwärmen ja, aber richtig
Die Frage ist also nicht, ob man sich aufwärmen sollte, sondern wie. Ein gründliches Warm-up ist für jeden Läufer unerlässlich, um den Körper auf die Belastung vorzubereiten und das Verletzungsrisiko zu minimieren. Die alte Gewohnheit des statischen Dehnens vor dem Lauf sollte jedoch durch ein modernes, dynamisches Aufwärmprogramm ersetzt werden.
Wer seine Flexibilität verbessern möchte, sollte statische Dehnübungen als festen Bestandteil in die Phase nach dem Training integrieren. So kombiniert man die Vorteile beider Methoden optimal: eine leistungsfähige, gut vorbereitete Muskulatur vor dem Lauf und eine entspannte, flexible Muskulatur danach.





