In einem ausführlichen Gespräch erläutert Rivian-CEO RJ Scaringe die Unternehmensstrategie, die Pläne für das erschwingliche R2-Modell und die Hintergründe für die kontroverse Entscheidung, auf Apple CarPlay zu verzichten. Scaringe betont die Bedeutung einer eigenen Software-Plattform für die zukünftige Integration von KI und autonomen Fahrfunktionen.
Er gibt außerdem Einblicke in die finanziellen Herausforderungen, den Wettbewerb mit chinesischen Herstellern wie BYD und die geopolitischen Hürden durch Zölle und Lieferkettenprobleme. Der Fokus liegt klar auf dem Ausbau der US-Produktion und der Skalierung des Geschäfts durch neue, preisgünstigere Modelle.
Wichtige Erkenntnisse
- Rivian startet die Auslieferung des günstigeren R2-Modells für 45.000 US-Dollar in der ersten Hälfte des Jahres 2026.
- Das Unternehmen verzichtet bewusst auf Apple CarPlay, um ein nahtloses, integriertes Software-Erlebnis zu schaffen, das für zukünftige KI-Funktionen entscheidend ist.
- RJ Scaringe sieht die größte Herausforderung durch chinesische Hersteller nicht in den Kosten, sondern in deren fortschrittlicher Software- und Elektronik-Architektur.
- Rivian erreichte im vierten Quartal 2024 erstmals eine positive Bruttomarge und erwartet, dass das R2-Modell die Skalierung ermöglicht, um nachhaltig profitabel zu werden.
- Fortschritte im autonomen Fahren sollen bis 2027 „Eyes-off“-Fahrten auf Autobahnen ermöglichen.
Vom Nischenanbieter zum Massenmarkt
Rivian hat sich seit der Einführung seiner R1-Modelle als Hersteller von Premium-Elektrofahrzeugen etabliert. Der R1T (Truck) und der R1S (SUV) wurden als Flaggschiffprodukte konzipiert, um die Marke zu positionieren und eine klare Botschaft zu senden: Fahrzeuge für einen aktiven Lebensstil, die sowohl auf der Straße als auch im Gelände überzeugen.
Mit einem durchschnittlichen Verkaufspreis von rund 90.000 US-Dollar bedienen diese Modelle jedoch ein Nischensegment. „Das Ziel ist definitiv, viel breiter aufgestellt zu sein als ein Unternehmen für teure Elektrofahrzeuge“, erklärte CEO RJ Scaringe. Der nächste logische Schritt ist die Expansion in den Massenmarkt.
Der R2 als Schlüssel zum Erfolg
Das kommende R2-Modell, dessen Auslieferung für die erste Hälfte des Jahres 2026 geplant ist, soll diese Expansion ermöglichen. Mit einem Startpreis von 45.000 US-Dollar zielt der R2 auf ein deutlich breiteres Publikum ab. Er ist kleiner als der R1S und etwas kürzer als ein Tesla Model Y, soll sich aber geräumiger anfühlen.
Scaringe betonte, dass die Kostensenkung von über 50 % im Vergleich zum R1 nicht zu Lasten der wahrgenommenen Qualität oder der Kernfunktionen gehe. „Es ist die Ausführung: Das Interieur ist einfach wunderschön, und die Art, wie das Auto fährt und sich anfühlt, ist erstaunlich“, so der CEO. Funktionen wie der vordere Kofferraum (Frunk) und eine Heckklappe mit versenkbarer Scheibe bleiben erhalten.
Marktführer im Premium-Segment
Laut Scaringe ist der Rivian R1S das meistverkaufte Premium-Elektro-SUV in den USA mit einem Marktanteil von etwa 35 %. In den Bundesstaaten Kalifornien und Washington ist es sogar das meistverkaufte Premium-SUV über 70.000 US-Dollar, unabhängig von der Antriebsart.
Die strategische Entscheidung gegen CarPlay
Eine der umstrittensten Entscheidungen von Rivian ist der Verzicht auf die Integration von Apple CarPlay und Android Auto. Scaringe verteidigte diesen Schritt vehement und erklärte, dass es sich um eine langfristige strategische Entscheidung handle, um ein überlegenes Nutzererlebnis zu schaffen.
„Wir sind fest davon überzeugt. Für einige Leute bedeutet das, dass sie keinen Rivian kaufen werden. Das akzeptieren wir.“
Der Hauptgrund für diese Haltung ist die Vision eines vollständig integrierten digitalen Ökosystems. Anstatt zwischen dem Rivian-System und einer externen Oberfläche wie CarPlay zu wechseln, sollen alle notwendigen Anwendungen – von Spotify über Google Maps bis hin zu Apple Music – nativ in die Rivian-Software integriert werden.
Vorbereitung auf die KI-Zukunft
Diese Kontrolle über die gesamte Software-Plattform sei entscheidend für zukünftige Entwicklungen, insbesondere bei der Integration von künstlicher Intelligenz. „In den nächsten 18 Monaten werden wir viele neue Funktionen sehen, die notwendigerweise Aufgaben ausführen oder Entscheidungen treffen, um verschiedene Anwendungen zu verbinden“, erklärte Scaringe.
Ein tiefes Verständnis des Fahrzeugzustands, der Fahrhistorie und der Nutzerpräferenzen sei nur in einem geschlossenen System möglich. Dies erlaube eine reichhaltigere und kontextbezogenere Nutzererfahrung, die mit einer übergestülpten Anwendung wie CarPlay nur schwer zu realisieren wäre. Dennoch betonte Scaringe die gute Beziehung zu Apple und kündigte weitere Integrationen wie die Nutzung der Apple Watch als digitalen Schlüssel an.
Wettbewerb, Zölle und der Weg zur Profitabilität
Die globale Automobilindustrie befindet sich im Umbruch, und Rivian steht vor mehreren Herausforderungen. Scaringe identifiziert dabei zwei zentrale Aspekte im Wettbewerb mit chinesischen Herstellern wie BYD.
Chinas Stärken
Zunächst sei da die Kostenstruktur, die durch niedrige Kapitalkosten, subventionierte Werke und geringe Lohnkosten begünstigt wird. Scaringe erwartet jedoch, dass Zölle oder die Forderung nach lokaler Produktion diese Vorteile relativieren werden. „Der größere Faktor ist tatsächlich, wie fortschrittlich die Technologie ist“, sagte er. Ähnlich wie Rivian und Tesla hätten viele chinesische Unternehmen ihre Software- und Elektronikplattformen von Grund auf neu entwickelt, was ihnen einen Vorsprung gegenüber traditionellen Herstellern verschaffe.
Software-Deal mit Volkswagen
Die Stärke von Rivians Technologieplattform wird durch einen bedeutenden Geschäftsabschluss unterstrichen. Das Unternehmen hat eine Software-Lizenzvereinbarung und ein Joint Venture im Wert von 5,8 Milliarden US-Dollar mit dem Volkswagen-Konzern geschlossen. Rivians Technologie soll künftig in VW-Fahrzeugen weltweit (außer in China) zum Einsatz kommen.
Finanzielle Entwicklung und Skalierung
Der Weg zur Profitabilität war für Rivian steinig. Nach einem schwierigen Start während der Pandemie und der Lieferkettenkrise erreichte das Unternehmen im vierten Quartal 2024 erstmals eine positive Bruttomarge. Ein Rückschlag im zweiten Quartal 2025 – verursacht durch chinesische Exportkontrollen für Magnete, die für die Motorenproduktion benötigt werden – führte zu einem Produktionseinbruch von 14.000 auf 6.000 Fahrzeuge.
Diese Exportkontrollen wurden inzwischen aufgehoben. Scaringe ist optimistisch für die Zukunft: „Die Einführung des R2 entfacht das Geschäft wirklich. Sie ermöglicht es uns, ein Volumen zu erreichen, das hilft, unsere operativen Fixkosten zu decken.“ Die Skalierung durch den R2 ist der entscheidende Faktor, um langfristig profitabel zu wirtschaften.
Die Zukunft des autonomen Fahrens bei Rivian
Rivian investiert stark in die Entwicklung autonomer Fahrfunktionen. Das Unternehmen hat seine Strategie von einem regelbasierten Ansatz zu einem KI-gestützten Modell geändert, das auf einem großen neuronalen Netz basiert.
Ein Paradigmenwechsel in der Entwicklung
Die Fahrzeuge der zweiten Generation (Gen 2), die Mitte 2024 auf den Markt kamen, verfügen über eine selbst entwickelte Sensorik und eine leistungsfähigere Rechenplattform. Diese Systeme sammeln kontinuierlich Daten, um ein „Grundlagenmodell für das Fahren“ zu trainieren. Dieser Ansatz verspricht eine deutlich schnellere Verbesserungsrate der Fähigkeiten.
Die aktuelle „Highway Assist“-Funktion ist der erste Schritt. Die nächsten Entwicklungsstufen umfassen:
- Hände vom Lenkrad, Augen auf der Straße: Diese Funktion soll auf allen Straßentypen verfügbar werden.
- Turn-by-Turn-Navigation: Das Fahrzeug navigiert selbstständig von einer Adresse zur anderen (geplant für nächstes Jahr).
- Hände vom Lenkrad, Augen von der Straße: In bestimmten Situationen, wie auf der Autobahn, sollen Fahrer ab 2027 andere Tätigkeiten ausführen können.
Scaringe ist überzeugt, dass sich die Technologie in den nächsten zehn Jahren rasant entwickeln wird. „Bis Anfang der 2030er Jahre wird es unvorstellbar sein, ein neues Auto zu kaufen, das nicht auf einem sehr hohen Niveau selbstfahrend ist.“





