Eine neue wissenschaftliche Untersuchung, veröffentlicht in der renommierten Fachzeitschrift Nature, hat ergeben, dass ein Schweizer Atomkraftwerk deutlich höhere Mengen des radioaktiven Isotops Kohlenstoff-14 (C-14) ausstößt als bisher offiziell gemeldet. Die Messungen zeigen eine Diskrepanz, die Fragen zur Genauigkeit der aktuellen Überwachungsmethoden aufwirft.
Forscher der ETH Zürich und anderer Institutionen nutzten eine neuartige Messtechnik, um die Emissionen des Kernkraftwerks Gösgen direkt in der Abluftfahne zu analysieren. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die tatsächlichen Freisetzungen die gemeldeten Werte um das 1,5- bis 2-fache übersteigen könnten.
Wichtige Erkenntnisse
- Eine Studie in Nature zeigt, dass die C-14-Emissionen des AKW Gösgen höher sind als gemeldet.
- Die gemessenen Werte überstiegen die offiziellen Angaben um einen Faktor von 1,5 bis 2.
- Die Forscher nutzten eine mobile Laser-Spektrometrie-Methode für direkte Messungen in der Abluft.
- Die Diskrepanz wirft Fragen zur Genauigkeit der etablierten Überwachungs- und Meldeverfahren auf.
Neue Messtechnik liefert präzisere Daten
Im Zentrum der Studie steht eine innovative Methode zur Messung von radioaktivem Kohlenstoff. Bisher basierten die Emissionsberichte von Kernkraftwerken hauptsächlich auf Berechnungsmodellen und stichprobenartigen Analysen. Diese indirekten Verfahren können jedoch Unsicherheiten aufweisen.
Das Forschungsteam, geleitet von Wissenschaftlern der ETH Zürich, setzte stattdessen ein mobiles Laserspektrometer ein. Dieses Gerät ermöglicht es, die Konzentration von C-14 in Form von Kohlendioxid (CO2) direkt und in Echtzeit in der Abluftfahne des Kraftwerks zu messen. Diese direkte Messung liefert ein genaueres Bild der tatsächlich freigesetzten Mengen.
Direkte Beobachtung der Abluftfahne
Die Messungen wurden in der unmittelbaren Umgebung des Kernkraftwerks Gösgen im Kanton Solothurn durchgeführt. Indem die Forscher die Abluftfahne des Kühlturms analysierten, konnten sie die C-14-Konzentration von der normalen Hintergrundstrahlung unterscheiden und präzise quantifizieren.
Laut der Studie ist dies eine der ersten direkten und quantitativen Beobachtungen von C-14-Emissionen aus einem in Betrieb befindlichen Kernkraftwerk. Die Ergebnisse stellen die Verlässlichkeit der bisherigen, modellbasierten Schätzungen infrage.
Was ist Kohlenstoff-14?
Kohlenstoff-14 (C-14) ist ein natürlich vorkommendes radioaktives Isotop des Kohlenstoffs. Es hat eine lange Halbwertszeit von etwa 5.700 Jahren. In Kernreaktoren entsteht es als Nebenprodukt. Da Kohlenstoff ein grundlegender Baustein des Lebens ist, kann C-14 in die Biosphäre gelangen und vom menschlichen Körper aufgenommen werden, wo es zur inneren Strahlenbelastung beiträgt.
Deutliche Abweichung von offiziellen Zahlen
Die Kernaussage der in Nature publizierten Arbeit ist die signifikante Abweichung zwischen den gemessenen Werten und den offiziellen Berichten. Die vom Betreiber des AKW Gösgen gemeldeten C-14-Emissionen basieren auf etablierten, international anerkannten Berechnungsmethoden.
Die direkten Messungen des Forscherteams ergaben jedoch eine Emissionsrate, die 50 % bis 100 % höher lag. Diese Diskrepanz deutet darauf hin, dass die tatsächliche Umweltbelastung durch C-14 aus kerntechnischen Anlagen möglicherweise systematisch unterschätzt wird.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die direkten Messungen der Abluftfahne eine wichtige und bisher fehlende Komponente für eine transparente Überwachung von C-14-Emissionen darstellen“, schreiben die Autoren in ihrer Veröffentlichung.
Mögliche Ursachen für die Diskrepanz
Die Wissenschaftler nennen mehrere mögliche Gründe für die Abweichung. Ein Faktor könnte die chemische Form sein, in der C-14 freigesetzt wird. Die Standardmodelle gehen oft davon aus, dass der größte Teil als CO2 entweicht.
Die Studie legt jedoch nahe, dass ein relevanter Anteil auch in Form von Kohlenwasserstoffen wie Methan (CH4) freigesetzt werden könnte. Diese Verbindungen werden von den herkömmlichen Messmethoden möglicherweise nicht vollständig erfasst, was zu einer Unterschätzung der Gesamtmenge führt.
Hintergrund: Überwachung von Kernkraftwerken
Betreiber von Kernkraftwerken sind gesetzlich verpflichtet, ihre radioaktiven Emissionen zu überwachen und an die Aufsichtsbehörden zu melden. Die Methoden dafür sind international standardisiert, basieren aber oft auf Berechnungen und nicht auf kontinuierlicher, direkter Messung aller relevanten Isotope. Die neue Studie könnte eine Debatte über die Notwendigkeit modernerer und präziserer Überwachungstechnologien anstoßen.
Bedeutung für Gesundheit und Umwelt
Obwohl die neu gemessenen C-14-Werte deutlich höher sind als berichtet, betonen die Forscher, dass die absolute Strahlenbelastung für die Bevölkerung in der Umgebung des Kraftwerks Gösgen weiterhin sehr gering ist. Die Emissionen liegen weit unter den gesetzlichen Grenzwerten und stellen keine akute Gesundheitsgefahr dar.
Die eigentliche Bedeutung der Studie liegt jedoch in ihrer globalen Relevanz. Kohlenstoff-14 hat eine sehr lange Halbwertszeit und verteilt sich weltweit in der Atmosphäre. Eine systematische Unterschätzung der Emissionen aus allen Kernkraftwerken weltweit könnte langfristig zu einer falschen Bewertung der globalen Strahlenbelastung führen.
- Langfristige Anreicherung: Aufgrund seiner langen Lebensdauer reichert sich C-14 über Tausende von Jahren in der Umwelt an.
- Globale Verteilung: Einmal in die Atmosphäre freigesetzt, wird C-14 global verteilt und in den Kohlenstoffkreislauf aufgenommen.
- Kollektivdosis: Die summierte Strahlenbelastung für die gesamte Weltbevölkerung über lange Zeiträume ist der relevante Faktor bei der Bewertung von C-14.
Forderung nach besserer Überwachung
Die Autoren der Studie argumentieren, dass ihre Ergebnisse die Notwendigkeit unterstreichen, die Überwachungsmethoden für radioaktive Emissionen zu modernisieren. Direkte und kontinuierliche Messverfahren, wie die verwendete Laserspektrometrie, könnten zu einer transparenteren und genaueren Berichterstattung führen.
Eine präzise Erfassung ist nicht nur für die öffentliche Sicherheit und das Vertrauen in die Atomindustrie wichtig, sondern auch für die wissenschaftliche Forschung. Genaue Emissionsdaten sind entscheidend für Modelle, die den globalen Kohlenstoffkreislauf und die Verteilung von radioaktiven Stoffen in der Umwelt untersuchen.
Die Studie aus der Schweiz könnte somit als Anstoß für eine weltweite Überprüfung und Verbesserung der Überwachungsstandards für kerntechnische Anlagen dienen. Sie zeigt, wie technologischer Fortschritt dabei helfen kann, die Umweltauswirkungen der Energiegewinnung besser zu verstehen und zu kontrollieren.





